Seit Beginn des europäischen Kulturhauptstadtjahres Ruhr 2010 wurde diesem Projekt entgegen gefiebert. Einst als Idee von Ruhr 2010 Geschäftsführer Fritz Pleitgen geboren, hatte anfangs niemand so recht geglaubt, dass sie sich tatsächlich umsetzen ließe: die Autobahn A 40 zwischen Duisburg und Dortmund auf sechzig Kilometern zu sperren und dort ein fröhliches Fest der Alltagskulturen zu feiern. Ein Fest auf dem Boulevard des Ruhrgebiets, das bedeutete: 20.000 Bierzelt-Tischgarnituren auf der Autobahn sollten ebenso vielen Gruppen die Möglichkeit geben, ihren Beitrag zur Kulturhauptstadt 2010 zu leisten. Und alle staugeplagten Ruhrgebietler würden ihren „Ruhrschleichweg“ im wahrsten Sinne des Wortes erfahren können: per Rad, Inline-Skates und was sonst noch Räder, aber keinen Motor hat.
Jahrelange Planungen liefen an und dann war es tatsächlich so weit: Sonntag, der 18. Juli 2010 – der Tag, an dem ein Stück Ruhrgebietsgeschichte geschrieben wurde. Schon in der Nacht begannen die gigantischen Vorbereitungen. Der Ruhrschnellweg wurde bereits am Vortag spätabends gesperrt und 300 LKW des Technischen Hilfswerks sollten die 20.000 Bierzeltgarnituren für das größte Picknick der Welt auf der Autobahn aufstellen. Doch hier hatte die Projektleitung die Rechnung ohne die Menschen gemacht. Derart begeistert war man von der Sperrung, dass spontan alles auf die große Straße drängte und ausprobieren wollte wie es sich wohl anfühlt, einmal den Fuß auf den Autobahn-Asphalt zu setzen. Erst über eine Stunde später ließ die Wärmebildkamera des Hubschraubers erkennen, dass die A40 nun wirklich nicht nur auto- sondern auch menschenleer war und der Aufbau konnte beginnen. Neben den vielen Tischen mussten auch 3.000 Dixi-Klos für den erwarteten Andrang von 1,5 Millionen Besuchern in Position gebracht werden, fast der gesamte europäische Bestand dieser mobilen Toiletten.
6:00 Uhr – 11:00 Uhr: Es geht langsam los
Sonntag, 6:00 Uhr: der Wecker klingelt. Ich war natürlich schon vorher wach, denn der Einsatz beim Stilleben Ruhrschnellweg als Volunteer war einer der Höhepunkte im ganzen Kulturhauptstadtjahr. Geduscht, Ruhr 2010–Ausstattung angezogen, ein wenig gefrühstückt und dann ging es los zur Akkreditierung im Logistik-Point, unserer Sammelstelle der Duisburger Volunteers. Hier herrschte bereits reges Treiben. Rucksäcke mit dem Tagesbedarf an Müllsäcken, Sonnenschutz, Pflastern und sonstigen Utensilien für alle denkbaren Eventualitäten wurden ausgegeben. Es gab das digitale Funkgerät, mit dem wir die Kommunikation untereinander sicherstellen konnten. Und es stand reichlich Kaffee und frisches Gebäck für das zweite Frühstück bereit. Dann endlich ging es mit Linienbussen auf die Strecke. Ob die Autobahn tatsächlich gesperrt war? Sie war! Während der Fahrt tat sich ein ganz ungewohnter Eindruck der A40 auf. Völlig still lag sie da, Tische in Reih und Glied waren zu sehen, wir fuhren an Absperrbaken, Sanitätsposten und den Dixi-Klos vorbei. Viele Tische wurden gerade vorbereitet und liebevoll dekoriert. Und auf den Brücken drängten jetzt schon Menschen, Menschen, Menschen. Unsere Haltestelle lag mitten im Kreuz Kaiserberg. Endlich der große Moment: ich setzte einen Fuß auf echten A40–Autobahnboden! An der Auffahrt warteten schon die vielen Besucher darauf, dass es um 11:00 Uhr endlich losging.
11:00 Uhr – 17:00 Uhr: Das fröhliche Feiern
Es ging natürlich früher los. Bei einem derartigen Besucheransturm musste die Autobahn einfach schon vorher freigegeben werden. Mit zwei anderen Volunteers war ich an der Auffahrt zur Tischspur eingeteilt. Hier durften nur Fußgänger auf die Autobahn, um entweder die eigenen Tische zu besetzen oder an der längsten Tafel der Welt vorbei zu flanieren. Es war nicht einfach, die Radfahrer davon zu überzeugen, das Fahrrad stehen zu lassen, schon gar nicht zu dritt (bzw. noch mit einigen Ordnern und THWlern). Während man bei einem Radfahrer in Erklärungen vertieft war, sah man aus den Augenwinkeln, wie drei andere versuchten, auf die Tischspur fahren. Aber die Stimmung war einfach unbeschreiblich. Die Gäste waren fröhlich, ausgelassen, gespannt-erwartungsvoll – eine grandiose, friedliche und gleichzeitig auch, ja, feierliche Atmosphäre.
Im Viertelstundentakt spuckten die Shuttlebusse weitere Menschenmassen aus, alles strömte und strömte auf den Ruhrschnellweg. Und dann ging gar nichts mehr. Stau auf der A 40. Wie immer also. Ein Stau aus Fahrrädern auf der einen Fahrtrichtung, ein Stau auf der Gegenfahrbahn aus Fußgängern. Also musste – wie auch sonst – eine Zuflussregelung her, sprich die Anschlussstellen wurden kurzzeitig gesperrt, bis sich die Lage wieder entspannt hatte. Selbst der Betrieb der Shuttle-Busse brach zwischenzeitlich zusammen, weil so viele Menschen unterwegs waren, dass an ein Durchkommen auf den Straßen nicht zu denken war. Erst gegen 16:00 Uhr verließen langsam mehr Besucher die Autobahn, als neue hinzukamen.
17:00 Uhr – 19:00 Uhr: Kehraus
„Danke, das war’s“. Das Banner, das der Ruhr 2010 – Flieger seit 16:00 Uhr über den Ruhrschnellweg flog, war die freundliche Aufforderung aufzuhören, wenn es am schönsten ist. Enttäuschte Gesichter gab es nun zuweilen, weil Besucher doch noch auf die Autobahn wollten und dann hören mussten, dass schon „zu“ ist. Gegen 17:30 Uhr mussten wir freundlich nachhelfen und die letzten Radfahrer von der Fahrbahn winken. Schließlich waren die Aufräumarbeiten ebenso minutiös geplant, wie der Aufbau des Stilllebens. Morgens um 5:00 Uhr musste die A 40 wieder dem Verkehr übergeben werden – und zwar in verkehrssicherem Zustand. Übrigens war das auch der Grund, warum z. B. das Grillen verboten war. Triefendes Grillbauchfett hätte auf der Fahrbahn leicht eine Ölspur bilden können. Es waren rührende Szenen, wenn die letzten Radfahrer gewahr wurden, dass nun wirklich Schluss sein sollte. „Nur noch eine Ausfahrt“, „Ich muss noch bis Dortmund“, „Ich kenne nur den Weg über die A40“ – Argumente, denen man nur sehr schlecht widerstehen konnte. Aber irgendwann war die Fahrbahn frei, die Parade der Müllwagen fuhr auf und die Teams der Nachtschicht begannen damit, die letzten Spuren eines großartigen Tages zu beseitigen, auf das die A 40 wenige Stunden später ihr gewohntes Gesicht aus Autos und Staus zurückbekommt. Aber seit dem Stillleben wird jeder Beteiligte diese Autobahn mit anderen Augen sehen.
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